
Wattenscheid bildet einen Baustein im Palliativ-Netz Bochum
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 80 bis 90 Prozent aller Menschen möchten am liebsten zu Hause sterben, in vertrauter Umgebung, im Kreise ihrer Angehörigen und ohne Schmerzen. Die Realität sieht anders aus: „Sterben findet meist in anonymen Einrichtungen statt“, weiß Dr. Jürgen Thomas, „in Krankenhäusern, Alten- oder Pflegeheimen.“
Der Allgemeinmediziner aus Höntrop gehört zu den Ärzten, Palliativ-Pflegern und Hospizdiensten, die sich vor zwei Jahren zum Palliativnetz Bochum zusammen geschlossen haben, „aus dem Wissen heraus, dass Sterbende nicht so gut versorgt werden, wie es sein könnte“. Ziel des Netzwerks: Man bemüht sich gemeinsam, Menschen – möglichst weit vor dem Tod – die letzte Lebensphase am Ort ihrer Wahl so angenehm wie möglich zu gestalten. Dr. Thomas: „Im Krankenhaus kann den speziellen Bedürfnissen Sterbender wie Erzählen, Zuhören, einfach menschlicher Zuwendung, kaum entsprochen werden.“
Verschiedene Rädchen sollen bei dieser Aufgabe zum Wohle des Patienten ineinander greifen, erklärt Siegfried Schirmer, ehrenamtlicher Geschäftsführer des Hospizvereins: „Palliativmedizin ist Teamarbeit.“ Mit im Team sind neben Ärzten mit einer speziellen Fortbildung, den ehrenamtlichen, ambulanten Hospizhelfern und speziell qualifizierten Pflegekräften auch Apotheken, die eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung mit Schmerzmitteln wie Morphium leisten. „Wenn eine solche Spritze zur richtigen Zeit den Schmerz nimmt, dann kommt auch der Schrei nach aktiver Sterbehilfe nicht so schnell“, ist Siegfried Schirmer überzeugt. „Die Sterbephase“, ergänzt Dr. Thomas, „ist eine entscheidende Phase im Leben, die man einem Menschen nicht vorenthalten darf – denn dabei wird noch einmal Bilanz des eigenen Leben gezogen.“
Mitbetreut durch die in Palliativmedizin geschulten Kräfte werden auch die meist überlasteten Angehörigen: „Sie sind oft diejenigen, die noch mehr leiden als der Patient, weil sie so hilflos sind“, sagt Michael Kemmerich, Leiter der Wattenscheider Familien- und Krankenpflege, die mit zu den Initiatoren des Netzwerks gehört. „Wir haben alle gemeinsam ein Paket geschnürt, das ihnen konkret weiterhilft, wenn es in der Klinik heißt: Wir können nichts mehr tun.“
Wichtig sei es auch, den Angehörigen klar zu machen, welch einschneidendes und wichtiges Familienereignis das Sterben sein kann, ergänzt Dr. Thomas. „Es ist schlimm, dass man heute erwachsen werden kann, ohne jemals einen Toten gesehen zu haben. Beim Sterben dabei zu sein war früher etwas ganz Natürliches – aber in der heutigen Gesellschaft findet es kaum mehr statt. Doch Angehörige, die es miterlebt haben, möchten diesen Moment nicht mehr missen – obwohl er für sie hart war.“
Für Dr. Thomas, der gerade eine Palliativ-Zusatzqualifikation erwirbt, war es in den vergangenen zwei Jahren wichtig zu erleben, „dass ich nicht mehr nur der Arzt am Sterbebett war“. Die Palliativversorgung müsse aber noch viel bekannter werden – gerade bei anderen Ärzten. „Ideal wäre es, wenn ein Mensch, der an einer unheilbaren und zum Tode führenden Krankheit im fortgeschrittenen Stadium leidet, weiterhin von seinem Hausarzt betreut wird – denn der kennt ihn am besten. Und der kann dann auch entscheiden, wann es sinnvoll ist, einen Palliativmediziner hinzuzuziehen.“
Foto: Michael Kemmerich, Siegfried Schirmer und Dr. Jürgen Thomas (v. l.)
Von Annette Wenzig, WAZ
Foto: WAZ, Klaus Micke